26.

26.12.2021

Auf Besuch in der Männer-WG von Oberhofstetten

Auch eine Herbergs-Geschichte …

Erich Gmünder, Text und Fotos 

Mit einem Schreiben, das Niklaus Rütsche Anfang November in die Briefkästen seiner Nachbarn einwarf, informierte er über den Einzug zweier Mitbewohner in seinem Haus in Oberhofstetten. Wir haben die WG einen Monat später besucht. 

Die Oberhofstetter WG: Niklaus Rütsche mit Najiib (links) und Sajjad.

Liebe Nachbarinnen und Nachbarn

Seit 30. Oktober 2021 ist mein Haus wieder etwas belebter. Ich beherberge zwei junge Flüchtlinge, die in der Schweiz Fuss fassen wollen. Sie heissen Najiib und Sajjad und stammen aus Somalia und aus Afghanistan. Aktuell gehen sie zur Schule, und nächstes Jahr wollen sie eine Lehre beginnen. Beide geben ihr Bestes für eine gute Integration. Ich bin überzeugt, dass ihnen dies gelingen wird. Sajjad und Najiib wünschen sich Kontakt mit Schweizerinnen und Schweizern. Man kann sich gut mit ihnen auf Deutsch unterhalten. Ich möchte euch deshalb einladen, sie anzusprechen und vielleicht auch einmal etwas abzumachen. Solche Kontakte können für beide Seiten sehr bereichernd sein. Ich danke euch für die gute Aufnahme von Najiib und Sajjad bei uns und wünsche euch eine gute Zeit.

Herzliche Grüsse, Niklaus

***

An der Türe empfängt mich ein dunkelgelockter junger Mann und führt mich in den hellen Anbau mit Küche und Esszimmer und Blick auf den Garten. Auf dem grossen Tisch warten Tee und ein paar Naschereien auf den Gast. Und daneben Niklaus Rütsche, der seine WG kurz vorstellt und erzählt, wie es dazu kam.

«Wir sind alle gleich»

Zuerst erklärt er mir, mit Unterstützung seiner beiden WG-Gspänli, wie diese WG funktioniert. Wobei er grad mal klarstellt: «Wir sind alle gleichwertig.» Niklaus Rütsche ist diese Feststellung besonders wichtig, und er wiederholt seine Kernbotschaft auch vor seinen Kollegen wohl nicht zum ersten Mal – und um sie verständlich rüberzubringen, mit Unterstützung seiner Hände: «Ich bin nicht wichtiger oder besser, weil ich hier der Eigentümer und formell der Vermieter bin, wir sind alle gleich, und alle haben die gleichen Rechte und Pflichten.»

«Ich bin nicht wichtiger oder besser, weil ich hier der Eigentümer und formell der Vermieter bin, wir sind alle gleich, und alle haben die gleichen Rechte und Pflichten.»

Das wirkt sich ganz konkret auf den Alltag aus: Jeweils am Mittwochabend treffen sich die drei Männer zum Nachtessen, das jede Woche von einem der drei zubereitet wird. Die andern beiden räumen nachher auf. Wer kocht, ist in jener Woche auch für die diversen Ämtli zuständig. Für das Putzen der gemeinsamen Räume, für den Geschirrspüler, für Abfallentsorgung, das Schneeräumen … und einmal pro Woche, eben vor der Sitzung, das Kochen. Etwas aussergewöhnlich sei wohl die Lösung, dass jemand eine ganze Woche für alles zuständig ist: Seine WG-Kollegen hätten das so gewünscht, damit sie zwischendurch auch wieder mal zwei Wochen frei hätten, erzählt der Oberhofstetter schmunzelnd.

Beim wöchentlichen Nachtessen wird auch besprochen, welche gemeinsamen Werte wichtig sind. «Das Wichtigste, und das haben wir gemeinsam herausgefunden, ist das gegenseitige Vertrauen. Ohne das würde es nicht funktionieren.»

Nach gut einem Monat zieht Niklaus eine positive Bilanz – und wiederholt das auch nochmals gestenreich vor dem Besuch: «Ihr seid für mich eine grosse Bereicherung, ihr gebt mir viel! Ich bin sehr beeindruckt, wie gut ihr euch eingelebt habt, dass ihr eure Meinung vertretet, dass ihr euch interessiert für das Leben hier und wir respektvoll und friedlich zusammenleben können.»

Rasch integriert

Beeindruckend ist auch, wie gut sich Najiib und Sajjad bereits auf Deutsch untereinander und mit dem Besucher verständigen können. Beide besuchen seit zwei Jahren den Deutschunterricht und haben rasch Fortschritte gemacht. Jede Woche absolvieren sie einen Schnuppertag bei einer Firma. Ziel ist, dass sie nächsten Sommer mit der Lehre anfangen können.

Najiib, 19, aus Somalia, lebt seit 2018 in der Schweiz

«Nadschib» ist ein begeisterter und offenbar talentierter Fussballer. Bereits mit 10 Jahren trat er in seinem Heimatland in eine Mannschaft ein, zurzeit spielt er beim FC Brühl und will nächstes Jahr nach Teufen wechseln. Bevor er wusste, dass es die Schweiz gibt, war der FC Basel für ihn ein Begriff. Nach sechs Jahren musste er die Schule verlassen, weil die Eltern das Schulgeld nicht mehr bezahlen konnten. Er sah in Somalia für sich keine Zukunft mehr. Das Land wird von einer mafiaähnlich organisierten Terrormiliz kontrolliert. Er, der sechs Geschwister zurückliess, erlebte sein Land zunehmend als Gefängnis.

Als er Somalia mit 14 Jahren verlässt, ist das der Beginn einer drei Jahre langen Odyssee. Nach der Flucht und der gewagten Überfahrt übers Mittelmeer landet er in Lampedusa und schliesslich nach einem weiteren Jahr in Bellinzona. Ein Polizist, der sich seiner erbarmt, schenkt ihm hier ein Bahnbillet nach Kreuzlingen, wo er in der Auffangstation unterkommt. Als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling (UMA) kommt er schliesslich nach Trogen und wird dort an eine Pflegefamilie vermittelt. Er besucht den Deutschunterricht und absolviert fleissig Schnupperbesuche bei verschiedenen Firmen. Sein Berufstraum: eine Lehre als Schreiner oder Zimmermann.

Sajjad, 17, Afghane, seit 2019 in der Schweiz

Auch «Sadschads» Leidenschaft ist der Fussball, er trainiert beim FC Fortuna und spielt in der U-18-Coca-Cola-Liga. Seine Eltern kehrten Afghanistan schon vor 40 Jahren den Rücken, auch damals wegen der kriegerischen Ereignisse, und emigrierten nach Iran. Dort galten sie als Ausländer, das liess man ihn spüren, weshalb Sajjad dort keine Zukunft sah und nur noch weg wollte. 2018 ist es schliesslich so weit: Er tut sich mit Kollegen zusammen und verlässt den Iran auf einer abenteuerlichen Fluchtroute über die Grenze zur Türkei.

Ebenso waghalsig ist die Flucht in einem Gummiboot nach Griechenland. Hier wartet er eine passende Möglichkeit ab und versteckt sich mit zwei anderen Flüchtlingen in der gekühlten Ladefläche eines LKW. Damit gelangt die Gruppe auf einer Fähre nach Bari, Italien. Dort können sich die drei beim Chauffeur mit Klopfzeichen bemerkbar machen, der sie befreit – sie sind durchfroren und blau angelaufen. Die Polizei bringt die drei Jungs als Notfälle ins Spital. Einen Tag später kann Sajjad nach Mailand weiterreisen und kommt schliesslich in die Schweiz. Er lebt ein Jahr bei einer Pflegefamilie in Trogen. Hier lernt er auch Najiib kennen, und sie beschliessen, zusammenzuziehen. Sajjad besucht ebenfalls den Deutschunterricht und sein Ziel ist eine Lehre als Automechaniker.

Niklaus Rütsche, Jurist, 61

Niklaus Rütsche plante eigentlich, nach der Scheidung das zu gross gewordene Reihenhaus zu verkaufen. Durch einen früheren Berufskollegen – Rütsche arbeitet bei einer KESB in der Region – stiess er schliesslich auf tipiti, einen Verein, der junge Flüchtlinge betreut und vermittelt. Er lernte die beiden jungen Männer kennen, sie trafen sich dreimal, bevor sie sich gemeinsam entschieden, eine WG in Oberhofstetten zu gründen. Nun ging es plötzlich schnell. Niklaus ist Vater von vier erwachsenen Kindern; diese unterstützten ihn und räumten – soweit noch nötig – bereitwillig ihre Kinderzimmer. Die neuen WG-Gspänli konnten am 30. Oktober einziehen.

2 Kommentare

  1. Brigitt Huber

    22.04.2023 / 18:54 Uhr

    Haben die beiden Burschen mittlerweile ihre Lehrstelle gefunden? Ihren Mut, Herr Rütsche, eine WG einzurichten, finde ich pionierhaft und menschlich. Gottseidank gibt es Leute wie Sie.

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  2. Roman Wetzel

    19.01.2022 / 21:25 Uhr

    Gratuliere Herrn Rütsche, und wünsche den Drei viel Glück.

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